Vom Wunsch nach einem humanen Zusammenleben

 

Filmemacher und ZFF-Festredner Samir über Schönheit der Religion, fesselnde Geschichten und menschliche Empathie.

Madeleine Stäubli: Aus welchen Beweggründen haben Sie zugesagt, die Festansprache der kirchlichen Preisverleihung vom 29. September 2022 zu übernehmen?

An einem Filmfestival mit Kolleginnen und Kollegen zusammen zu kommen ist auch immer eine gute Gelegenheit, sich über unsere grundlegenden Probleme in der Filmproduktion auszutauschen. Für mich gilt dazu vor allem auch die Frage: Für WEN machen wir unsere Filme und noch wichtiger, WARUM und WOZU machen wir sie? Es versteht sich von selbst, dass neben den konkreten Fragen betreffend Realisation und Produktion auch existenzielle Fragen hinzukommen: Was ist die Rolle eines Individuums und seiner künstlerischen Tätigkeit im gesellschaftlichen Sinne.

 

Was interessiert Sie an der Verbindung von Kirche und Film?

Transzendenz – und in beiden «Institutionen» werden Geschichten erzählt, um die Menschen an sich zu binden.

 

Ihr Nachname lautet „Jamal al Din“, was „Schönheit der Religion“ bedeutet. Sie sagten einmal, Sie würden lieber mit „Samir“- der Geschichtenerzähler – angesprochen werden. Kann Religion nicht auch Schönheit beinhalten? Und kann sie nicht auch spannende Geschichten über die Menschen erzählen?

Alle Dinge und alle Ideen, die die Menschen entwickelt haben, beinhalten die Schönheit wie auch die hässlichen Seiten der Menschen. Als Geschichten-Erzähler erscheinen diese Dinge in meinen Filmen im Bild. Die Handlungen in den Bildern sollten spannende Geschichten erzählen. Und ja, alle Religionen haben spannende Geschichten erzählt. In der Bibel haben mich vor allem die „bösen“ und hässlichen Geschichten über die Menschen fasziniert. Umso mehr war ich irritiert, dass die Geschichten des Alten Testaments im Widerspruch standen zu den Betrachtungen des Neuen Testamentes. Es war sehr verwirrend für einen jungen Menschen wie mich.

 

Sie haben 2014 mit der Dokumentation „Iraqi Odyssey“ eindrückliche Geschichten von Menschen aus Ihrem von Weltmächten versehrten Heimatland erzählt. Wie war die Resonanz, inwiefern haben diese Geschichten die (bequemen) Zuschauenden in der von Not verschonten Schweiz angesprochen und aufgerüttelt? Was kann ein Film bei Menschen auslösen?

In beiden meiner letzten Filme, dem Dokumentarfilm IRAQI ODYSSEY von 2015 und im Spielfilm BAGHDAD IN MY SHADOW von 2019, machte ich mir auch Gedanken zum Einfluss von Religion auf die Menschen und ihre Geschichte. Und wie die Menschen als Subjekte der Geschichte versuchen, ihren Willen und ihre Wünsche eines humanen Zusammenlebens durchzusetzen und wie sie dabei verheerende Niederlagen erleiden, aber auch grosse Hoffnungen entwickeln. Was mir sehr gefallen hat: Die Schweizer Kinogänger waren bei beiden Filmen begeistert und gingen in Scharen in Kinos und beteiligten sich engagiert an den Diskussionen mit mir als Regisseur. Es war mir eine grosse Freude zu sehen, dass es viele Menschen in der Schweiz gibt, die an den Problemen anderer Menschen – die weit weg von ihrer Kultur sind – interessiert sind und eine grosse Empathie entwickeln können.

 

Was werden Sie den Gästen an der kirchlichen Preisverleihung erzählen, verraten Sie dazu ein, zwei Stichworte?

Über die verschiedenen Formen von Religion und ihre gemeinsamen Ideen von Empathie und Mitgefühl allen Lebewesen gegenüber und meinem Wunsch, dass sich dies in den Filmen wiederfindet! 

 

Gespräch: Madeleine Stäubli

Samir Jamal Aldin, 1955 in Bagdad geboren, kam mit sechs Jahren in die Schweiz und bildete sich zum Typographen und Kameramann aus. Ab 1983 wirkte er als freischaffender Regisseur und Kameramann und realisierte eigene Filme. Er drehte über 40 Kurz- und Langspielfilme, darunter etwa den Kinofilm «Snow White» (2005). Im Jahr 2015 wurde seine Dokumentation «Iraqi Odyssey» für eine Oscar-Nomination als «Bester fremdsprachiger Film» benannt. Samir lebt mit seiner Familie in Zürich.